Excalibur schrieb on 23.08.10 um 16:25:46:
Ich denke nicht, daß ein Mensch hier nachvollziehen kann, was da an Unmenschlichkeit passiert ist...
Ich möchte es nicht nachvollziehen müssen, aber dennoch ist es genau das, was ich viele Jahre lang immer wieder versucht habe - immer wieder aus neuen Perspektiven. Ich dachte, das sei meine Pflicht, denn wenn sich so etwas niemals wiederholen soll, wie es ja allenthalben beschworen wird, dann ist es, gelinde gesagt, kontraproduktiv, es nicht zu beurteilen zu versuchen, WAS geschah, WANN es geschah und WARUM es geschah.
Und damit meine ich die Zeit, die lange vor der Reichskristallnacht, vor der Wannsee-Konferenz und vor Auschwitz lag. Immerhin geht es dabei um die Zeit, in der die Dinge geschahen, die das alles erst möglich gemacht haben. Es müssen nämlich sehr viele Dinge geschehen sein, bis ein Pogrom wie das von 1938 nur noch ziemlich gedämpftes Protestgemurmel und Abscheubekundungen seitens der normalen Bevölkerung hervorrief. Glaubst du, daß dieselbe Tat im Jahre 1933 nicht doch eine ganz andere Reaktion verursacht hätte, einen Sturm der Entrüstung?
Ich kann mir zum Beispiel die Reaktion auf das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" ganz gut vorstellen. Die direkt und indirekt Betroffenen waren sicherlich entsetzt. Aber der Rest? Viele waren ja - auch durch den Einfluß der Medien - der Meinung, der jüdische Einfluß in der Gesellschaft habe überhand genommen und es schade gar nicht, das ein bißchen zurechtzustutzen. Gefreut haben sich sicherlich diejenigen, die direkt davon profitiert haben, weil die freigewordenen Stellen nun ihnen angeboten wurden. Begeistert werden die - vergleichsweise weniger - Fanatiker gewesen sein, aber sie werden sich auch über die Ausnahmeregelungen beschwert haben, denn es gab Ausnahmeregelungen: Jüdische Beamte ab einem gewissen Alter sowie Weltkriegsteilnehmer mußten nach diesem Gesetz nämlich nicht aus dem Beamtenverhältnis ausscheiden.
Wer jetzt die eine oder andere Parallele zu den Reaktionen auf das Rauchverbot entdeckt, darf sie behalten. Ich werde mich hüten, sie explizit zu erwähnen, denn ich will niemandem Material liefern, der sich ein Loch in den Bauch freut, wenn er mir vorwerfen kann, Auschwitz zu verharmlosen. Es wird mir ja nichts helfen, daß das, was ich mir dabei gedacht habe, mit Auschwitz gar nichts zu tun hat.
Solche Dinge KANN man sich aber durchaus vorstellen, jedenfalls wenn man dazu bereit ist. Und die vorstellbaren Unmenschlichkeiten der Jahre 1933, 1934 und so weiter waren die Voraussetzung für die unvorstellbare Unmenschlichkeit der vierziger Jahre. Also muß man genau die sich vorstellen. Eine nach der anderen, und dann kann man sich am Ende alles vorstellen. Geht man chronologisch umgekehrt vor, findet man schon das Erste, was man sich vorzustellen versucht, viel zu unvorstellbar, um weiterzumachen.
Aber manchmal beschleicht mich ein Verdacht: Machen die Leute, die falsch herum anfangen, das vielleicht sogar mit Absicht? Weil es einfach zu schmerzhaft ist, sich das Vorstellbare vorzustellen, so daß man lieber gleich mit dem anfängt, das ohne Kenntnis der Vorgeschichte natürlich kein Mensch begreifen kann? Dann murmelt man erschüttert: "Unvorstellbar!" und kann damit aufhören, sich weiter damit zu befassen.
Ich beuge mich dem gesellschaftlichen Tabu, jedenfalls fast immer, und zwar aus pragmatischen Gründen. Denn ich möchte, daß meine Argumente Gehör finden, und das tun sie nicht, wenn sie so leicht mit der Nazikeule erschlagen werden können. Aber es macht mir Angst, daß die Jahre, in denen die entscheidenden Weichen in Richtung Katastrophe gestellt wurden, einen blinden Fleck in der Diskussionskultur darstellen. Das, wovon man nichts weiß, kann man ja nicht wiedererkennen, wenn es wieder geschieht. Und wenn etwas mit Auschwitz Vergleichbares (das vermutlich ganz anders sein wird als Auschwitz) oder auch etwas, das "nur" vorstellbar schlimm ist, am Ende dieser neuen Entwicklung steht, was dann? Dann sind wir selbst schuld, denn wir hätten es ja eigentlich, wenn wir dieses Tabu nicht gehabt hätten, kommen sehen und vielleicht auch verhindern können.